"Der Carla geht´s gut"

Schwere geistige und körperliche Behinderung

Veröffentlichung in der "Homöopathie Zeitschrift" Ausgabe II/2010
Thema: Besondere Menschen. Behinderung aus homöopathischer Sicht.

Autor: Volker Weis

Das auffällige Sozialverhalten des Kindes sowie dessen miasmatische Belastung und einige stark ausgeprägte körperliche Symptome weisen den Weg zum Simillimum.

Ein achtjähriges Mädchen mit geistiger und körperlicher Retardierung infolge eines genetischen Schadens sozialisiert sich langsam aber stetig unter der homöopathischen Behandlung.

Carla, acht Jahre alt, ist recht klein für ihr Alter, blass und blond. Während der Anamnese erscheint sie ernst und gefühlskalt – sie nimmt keinen Kontakt zu mir auf. Das Mädchen kann nicht sprechen und hat einen starrren Blick.

Fallbeispiel

Carla B., acht Jahre, cerebrales Anfallsleiden (Epilepsie) sowie hochgradige psychomotorische Entwicklungsretardierung und Infektanfälligkeit mit häufigen Bronchitiden.

Vorgeschichte

Carla kam in der 30. Schwangerschaftswoche als Frühmangelgeburt zur Welt. Die Plazenta war untergewichtig und ungenügend durchblutet. Wegen mangelhafter Herzfunktion wurde ein Kaiserschnitt vorgenommen. Nach der Geburt musste sie sechs Tage lang aufgrund der Lungenunreife beatmet werden.

Auffälligkeiten

Hoher (Spitz-)Gaumen, übermäßig lange große Zehen, ungleich proportionierte Gesichtshälften, wobei der rechte Hinterkopf ausgewölbt und das Gehirn sehr klein ist. Eine genetische Schädigung ist wahrscheinlich. Die Mutter hatte vor Carla schon zwei Aborte: einmal starb der Fötus im Mutterleib einfach ab. Außer Carla hat sie zwei gesunde Kinder mit Mandelbeschwerden. Sie ist keine Raucherin. Während der Schwangerschaft mit Carla, so betont sie, hatte sie sehr "viel Stress mit der Schwiegermutter".

Sonstiges

Carla hat andauernd grippale Infekte: Den ganzen Winter über ist sie erkältet und leidet oft unter Husten. Sie reagiert dann meist mit Fieber. Im Alter von einem dreiviertel Jahr war sie sieben Wochen auf der Intensivstation, doch das Fieber ging selbst durch Antibiotika nicht zurück. Danach hat sie die Mutter kaum noch erkannt.
Wegen epileptischer Anfälle bekommt sie täglich 450 mg Orfiril® (Anti-Epileptikum).
In den ersten zwei Jahren kam es öfter zu Atemstillstand im Schlaf, so dass man sie rütteln musste. Anschließend war sie nachts lange Zeit unter Monitorüberwachung. Im Schlaf knirscht sie mit den Zähnen.
Vor zwei Jahren hatte sie einen Pilz auf der Zunge und weigerte sich, wegen der Schmerzen zu trinken. Sie kam ins Krankenhaus. Seither hat sie panische Angst vor Ärzten.
Carla hat alle Impfungen bekommen und stets mit Fieber reagiert.

Entwicklung

Sitzen mit zwei Jahren, Laufen mit drei Jahren, Zahnung mit einem Jahr (alle Zähne waren sofort kariös). Sie macht noch in die Windel; wenn man sie auf den Topf oder die Toilette setzt, lacht sie nur. Carla kann nicht rennen und wenn sie hinfällt, kann sie weder krabbeln noch aufstehen. Zudem ist es ihr nicht möglich, Speisen in der Hand zu halten und zum Mund zu führen (es läuft ihr dauernd Speichel aus dem Mund / Nebenwirkung von Orfiril®).

Erstanamnese

Während der Anamnese schlägt Carla ihre Mutter immer wieder, sobald diese sie von irgendeiner Handlung abhält. Nach Aussagen der Mutter schlug sie auch schon mit ihrem Kopf gegen die Wand. Als ich sie am Rücken berühre und etwas streichle, schiebt sie meine Hand weg und schlägt auch mich. Bei Wiederholung lässt sie es geschehen.
Die Mutter berichtet, morgens sei sie immer grantig, schreie bei lauter Musik oder beim Staubsaugen und werfe alles vom Tisch. Andererseits drehe sie ihre Musik laut auf. Wenn der Bruder geschimpft wird, so die Mutter, ziehe sie an der Tischdecke. Wenn Carla Dinge vom Tisch herunterwerfe, lachten alle. Werde sie geschimpft, dann schlage sie, weine entsetzlich und bekomme einen "wahnsinnigen Hustenanfall". Carla zwickt andere Leute, z.B. im Supermarkt.
Wenn sie sich freue, erzählt die Mutter, reiße sie sich an den Haaren, wenn sie sich aber ärgere, reiße sie den anderen an den Haaren. Oft habe sie Wutanfälle und mache dann Dinge kaputt. Carla sei schadenfroh!

F: Gibt es Ängste?
A: "Ja, vor Hunden. Die Katzen zieht sie am Schwanz. Panik hat sie beim Alleinsein."
F: Wie geht sie sonst mit Tieren um?
A: "Das Meerschweinchen der Familie hätte sie einmal fast erdrückt. Es bedeutet Konkurrenz für sie!".
F: Reagiert sie auf Musik?
A: "Wenn sie mit mir tanzt, flippt sie total aus!", sagt die Mutter.
F: Was bedeutet ihr Wasser?
A: "Das liebt sie sehr, das ganze Bad ist nass!"
F: Wie geht es mit Nähe und Schmusen?
A: "Das mag sie nicht so."
(Die Mutter lacht während der Anamnese sehr oft zwischen ihren Ausführungen).

Nahrungsverlangen

Joghurt, Schokolade, Multivitaminsaft (aber der macht einen wunden Po)

Stuhl

Wenn sie fiebert, leidet sie stark unter Obstipation, so dass die Mutter den Stuhl mit dem Finger holen muss.

Familienanamnese

Auf mütterlicher Seite: Die Mutter leidet unter Magengeschwüren, eine Schwester hat ebenfalls ein behindertes Kind, die andere Schwester Epilepsie. Auch sie hatte diverse Aborte. Der Bruder trinkt und nimmt Heroin. Die Großmutter hatte eine Lungenentzündung, die Urgroßmutter starb alt an Apoplexie. Der Großvater war gesund und sehr streng, der Urgroßvater hatte mit 60 Jahren einen Herzinfarkt. Die zweite Urgroßmutter bekam bereits in frühen Jahren eine Niereninsuffizienz.

Auf väterlicher Seite: Der Vater leidet unter Gicht, die Großmutter hat Sklerodermie – sie hatte auch schon Herzinfarkte, der Großvater hatte eine Apoplexie und leidet unter Asthma.

Fallanalyse
Primäre Miasmatik

Auf mütterlicher Seite:
Aborte, Absterben des Fötus, geistige Behinderung in diversen Fällen, Alkohol- und Heroinabusus, Apoplexien, Schädel- und Knochendeformation, Magengeschwüre: Syphilis
Epilepsie: Tuberkulinie oder Syphilis
Pneumonie: Tuberkulinie

Auf väterlicher Seite:
Gicht: tertiäre Sykose
Herzinfarkte und Apoplexien: Syphilis
Sklerodermie: Syphilinie

Sekundäre Miasmatik (Carla):

Epilepsie: Tuberkulinie oder Syphilis
Geistige Retardierung: Syphilis
Infektanfälligkeit: Psora
Spitzgaumen: Syphilis
Mikrocephalus: Syphilis
Karies aller Zähne: Syphilis (Sykose)

Prognose

Eine Heilung ist in Carlas Fall unmöglich. Zu erwarten ist jedoch eine Besserung der Stimmung, der Kommunikationsfähigkeit und des Sozialverhaltens. Auch Infektanfälligkeit, Fieberneigung und Husten sollten sich verbessern. Das gilt auch für die cerebralen Anfälle.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Eltern Carla Klarheit und Struktur vermitteln. Sie dürfen nicht lachen, wenn sie Dinge herunterwirft, da sie es ja selbst nicht gut finden (Hahnemann mahnte schon bei der Behandlung des "Irren" Glocklenbring zu: "Freundlichkeit und Menschlichkeit aber mit Bestimmtheit gepaart, die Achtung und zugleich das nötige Vertrauen schafft.")

Durch die miasmatische Auflistung wird klar, dass es sich hier um eine sehr schwere hereditäre syphilitische Belastung sowohl von Seiten der Mutter als auch von der des Vaters handelt. Dies ist das vorherrschende Miasma. Die anderen Miasmen, Tuberkulinie, Sykose und Psora sind von untergeordneter Virulenz. Dennoch glaubte ich, auf Grund der deutlichen Lungensymptomatik, das tuberkulare Miasma aktiv zu sehen.

Verordnung: Tuberculinum LM 6, alle zwei Tage (aufgelöst in Wasser)

Reaktion

Verschlimmerung des Hustens und der Destruktivität: Sie reißt der Mutter mit aller Gewalt an den Haaren, schreit heftig und ausdauernd bis sie das Gewünschte (eine Wurst) bekommt sowie leichte Krämpfe mit Hochwerfen der Arme.

Deutung

Verschlimmerung der Hauptbeschwerde und des emotionalen Befindens: das Mittel ist falsch!
Syphilinum ist für jeden homöopathischen Praktiker mit etwas Erfahrung offensichtlich. Dennoch lässt sich das Mittel durch eine Repertorisation lege artis nur ungenügend belegen, da diese Nosode als "Stiefkind" immer noch nicht ausreichend in die Repertorien eingearbeitet ist! Deshalb erfolgt hier keine Repertorisation.

Verordnung: Syphilinum LM 6, in täglichen Gaben (nachdem diese Potenz keine Besserung mehr bringt, wechsle ich auf die LM 12).

Reaktion

Die Mutter: "Der Carla geht's gut!" Jetzt bessert sich der Husten. Und auch psychisch ist sie ruhiger. Das Zerstörerische ist weniger geworden, die Wutanfälle, das Haareziehen und Zwicken sind nicht mehr so stark ausgeprägt. Nur im Supermarkt mit den vielen Leuten ist es immer noch ein Drama. Sie lache und schäkere viel, meint die Mutter, und sie sei fröhlicher geworden.
Die Eltern erklären ihr mehr und lachen auch nicht mehr, wenn sie Dinge runterwirft. Die Mutter beobachtet jetzt genauer. Carla gehorcht besser: Wenn man sagt, "bleib sitzen!", dann tut sie das auch. Der große Bruder berichtet, sie sei viel ruhiger, gehe jetzt an seiner Hand, früher habe sie ihn nur geschlagen. Aber sie freue sich noch immer, wenn was kaputt geht. Jetzt kommt sie sonntags in der Früh zu den Eltern ins Bett. Die Mutter meint: "Sie hat den Familiensinn entdeckt. Sie fühlt sich geborgen und wohl im Elternbett!" Einmal bei einem Besuch in der Praxis schläft sie auf dem Schoß der Mutter. Als sie erwacht, schaut sie mir beim Schreiben zu und berührt sanft das Anamnese-Blatt. "Die Ausdauer wird besser, sie bleibt auch mal ne halbe Stunde sitzen! Sie gießt Blumen – früher hat sie sie nur abgerupft. Sie versteht mehr!"

Deutung

Deutliche Besserung der Hauptbeschwerde und des sozialen Befindens: Das Mittel ist richtig.

Weiterer Verlauf

Nach zweieinhalb Monaten verschlimmert sich der Husten deutlich. Carla ist schlapp, hat Durchfall, aber kein Fieber wie sonst üblich. Der Po ist total wund, sie hat starken Juckreiz und kratzt sich überall. Allgemeinbefinden und Stimmung sind gut.

Deutung

Verschlimmerung einer Hauptbeschwerde und Auftreten von Durchfall mit Juckreiz.
Ich deute dies als Auflodern der Psora (heute hätte ich es vielleicht als Ausscheidungs-reaktion bzw. Ableitung der Krankheit über die Haut gewertet und erst einmal abgewartet, zumal das Allgemeinbefinden stabil blieb).

Verordnung: Sulfur LM 6

Reaktion

Schnelle Besserung des Durchfalls sowie des Hustens: "Nach zwei Tagen war alles weg!"

Verordnung: Ich kehre zurück zum Konstitutionsmittel: Syphilinum LM 18 (nachdem tägliche Gaben keine Besserung mehr bringen, wechsle ich auf die LM 24).

Reaktion

Weitere psychische Stabilisierung. Die Mutter freut sich sichtlich: "Wenn's wild zugeht, wirft sie noch Dinge runter. Wenn sie wieder mal zwickt und man sagt "hör auf!", gehorcht sie. Sie ist einsichtiger!"

Weitere Vorgehensweise

Ich wage es, Orfiril® auf 300 mg pro Tag zu reduzieren.

Reaktion

Acht Monate nach Behandlungsbeginn lautet die Aussage der Mutter: "Der Carla geht's gut!" Die Erkältungen und das Fieber sind weg, epileptische Anfälle sind keine mehr aufgetreten und auch ihre Wutanfälle sind ausgeblieben. Sie zwickt lediglich, wenn man sie schimpft. Aber sie lacht viel und macht Späße. Es besteht kein Speichelfluss mehr im Schlaf. Die Stuhlentleerung schafft sie fast alleine. Den ganzen Sommer über ist sie barfuß gelaufen ohne krank zu werden. Sie isst Erde. Die Mutter meint, sie habe vor nichts Angst.

Verordnung: Syphilinum LM 30

Reaktion

Neun Monate nach Beginn der Behandlung tritt erneut Fieber auf. Die Mutter gibt Fieberzäpfchen und selbständig ein paarmal Sulfur LM 6 – ohne Reaktion. Es besteht wieder starker Speichelfluss im Schlaf und Schweiß. Ein trockener Husten mit Erbrechen tritt auf, besser durch Aufsitzen, schlimmer im Liegen und nachts.

Verordnung: Mercurius solubilis LM 6

Reaktion

Ich erhalte keine Rückmeldung, und als ich versuche anzurufen, wird der Hörer einfach aufgelegt. Es gibt keine Resonanz der Mutter mehr. Die Behandlung schläft ein.

Fallanalyse

Syphilinum war in diesem Fall das Simillimum. Es wurde achteinhalb Monate gegeben mit einer kurzen Zwischengabe Sulfur. Die Sozialisation war deutlich zu spüren. Auch die epileptischen Anfälle wurden seltener, so dass Orfiril® reduziert werden konnte. Das letzte Mittel mag falsch gewesen sein, dennoch war Mercurius als syphilitisches Mittel logisch.

Fazit

Das Simillimum in einem Behandlungsfall zu finden, ist eine Sache, die andere, den Patienten zur Heilung oder, wenn diese nicht möglich ist, in einen stabilen Zustand zu führen. Die Mutter hat die Chance leider nicht erkannt, die die Homöopathie Carla bieten konnte. Ich frage mich oft, was wohl aus Carla geworden wäre, wenn ich sie einige Jahre hätte behandeln könnten – that‘s life!



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